Jede*r Kletterer*in hat diese Linien im Kopf, von denen man nachts träumt. Manchmal inspirieren sie dich, manchmal verfolgen sie dich – oft beides. Genau diese Projekte bringen uns dazu, über uns hinauszuwachsen und zeigen uns, wer wir wirklich sind. BD Ambassador Ethan Salvo hat kürzlich sein ganzes Leben umgekrempelt, um sich auf zwei Routen zu konzentrieren, die ihn ins Ungewisse gezogen haben – mit nur einem Ziel: ganz nach oben zu kommen. Hier erzählt er, wie er Dreamcatcher geknackt und als erster Kanadier in einer Woche einen V16 geklettert hat.

Dieses Gefühl kennen die meisten Kletterer nur zu gut. Die Schmetterlinge flattern im Bauch, die Härchen auf den Armen stellen sich auf, vielleicht läuft dir sogar ein Schauer über den Rücken, während dir der Atem stockt. Ich habe dieses Kribbeln gespürt, als ich unter El Cap stand, ins Buttermilks-Gebiet gefahren bin oder mich irgendwo tief im Geröllfeld der Wind River Range verloren habe. Du fühlst dich winzig angesichts dieser gewaltigen Natur. Mutter Naturs Meisterwerke ragen über dir auf, während Linien und Strukturen im Fels deinen Namen rufen. Du spürst das Verlangen, ein Teil davon zu sein. Zu lernen, wie du dich richtig bewegst, um nach oben zu kommen, ist für viele Kletterer eine der reinsten und ehrlichsten Motivationen. Das erste Mal, dass mich dieses Gefühl so richtig gepackt hat, war vor fünf Jahren auf einer Reise nach Vancouver BC zu den Youth Boulder Nationals.

Meine Mom und ich sind am Nachmittag in YVR gelandet, 24 Stunden bevor der Wettkampf losging. Wir haben den Mietwagen abgeholt und sind Richtung Norden nach Squamish gefahren. Ich hab ihr gesagt, ich müsste noch bei Climb On Equipment einkaufen (witzigerweise ist das jetzt schon seit zweieinhalb Jahren mein Arbeitgeber), aber eigentlich wollte ich einfach nur Dreamcatcher sehen. Wir haben uns zwischen den Boulderblöcken verlaufen, aber irgendwann konnten wir einen sehen, der größer war als alle anderen.Das muss er sein, oder? Draußen vor dem Eingang wusste ich: Ich bin angekommen. Das ist der Ort. Das Gefühl hat einfach gestimmt. Ich bin durch den Tunnel gelaufen und in The Room getreten, habe dabei eine Event Horizon überquert, von der ich nicht mal wusste, dass sie da ist. Das schwarze Loch, das The Room ist, hat langsam mein Leben verschlungen. Die Formen an den Wänden waren beeindruckend, fordernd und komplex. In mir wurde eine Motivation für Fels geweckt, die ich so noch nie gespürt hatte. Ich wusste nicht, wie oder wann, aber ich wusste, ich wollte ein Kletterer werden, der die Linien in The Room bezwingen kann.

Zwei Tage später waren wir wieder da – nach einer ziemlich verkorksten Halbfinalrunde, die damit endete, dass ich meinem Coach sagte, ich will nie wieder an Wettkämpfen teilnehmen. Meine Mom stand voll hinter mir, als ich zum ersten Mal an Room Service (V11/12) probierte. In den Monaten zu Hause habe ich mir immer wieder Videos von diesen Versuchen angeschaut. Im August bin ich dann zurückgekommen, um das Ding abzuschließen. Danach waren Room Service Low (V14) und The Singularity (V15) die logischen nächsten Schritte – aber ehrlich gesagt war ich dafür noch nicht bereit. Die beiden Boulder gingen mir das ganze Jahr nicht aus dem Kopf, während ich arbeitete und für den nächsten Sommertrip sparte. Und auch im Jahr darauf, als ich für einen Van sparte, um in den Westen zu ziehen und endlich meine Traum-Boulder zu klettern.

Im April 2022 bin ich durch den Frühlingsregen den Sea to Sky Highway hochgefahren, hab unterwegs noch einen Stopp in The Room eingelegt, um zu klettern, bevor ich überhaupt zum Supermarkt kam und mich in dem Ort eingelebt habe, den ich jetzt „Zuhause“ nenne. Ich war sofort mittendrin und hab mich gleich wieder an The Singularity versucht, aber meine Session endete dann doch am Projekt links daneben. Room Service Low startet etwa auf halber Höhe des Prows am The Room Boulder, aber die komplette Linie war immer noch ein offenes Projekt. Alles daran hat mich inspiriert – die Linie, die Bewegungen, die Felsqualität, der Schwierigkeitsgrad und vor allem das Setting. An diesem Tag hab ich mir geschworen, Squamish erst zu verlassen, wenn ich diese Linie geklettert habe – in dem Gedanken, dass es vielleicht mein Lebensprojekt werden könnte.

Ein paar Wochen nach meiner Ankunft in Squamish saß ich auf einer Dinnerparty und blätterte durch die Seiten eines Geburtstags-Horoskopbuchs. Ich schlug meinen Geburtstag, den 21. Oktober, auf – und unter dem Datum stand: „Der Tag der Einzigartigkeit.“ Dieses Gefühl von Sinn, das ich in The Room gefunden hatte, verwandelte sich in eine Art universelles Schicksal. Von diesem Tag an drehte sich für mich alles um dieses eine Problem. Ich habe ungefähr 60 Tage an The Singularity gearbeitet. Viele davon waren kalte Wintertage, an denen ich allein draußen war, an anderen Tagen war mein Freund Andy Lamb mit dabei. Während ich an The Singularity geklettert bin, hat er sich an dem Projekt links daneben versucht. Manchmal habe ich mitgemacht, und gemeinsam haben wir nach und nach die Sequenzen geknackt.

Im Februar 2024 habe ich die dritte Begehung von The Singularity gemacht. Ich war 21 und gerade aus Bishop zurück. In der darauffolgenden Woche hat Andy das Projekt abgeschlossen, es „Event Horizon“ getauft und V16 vorgeschlagen – der erste und einzige Boulder dieses Schwierigkeitsgrads in Kanada. In der Astrophysik ist ein Event Horizon der Bereich um ein Schwarzes Loch oder ein anderes massereiches Objekt, in dem die Gravitation so stark ist, dass nichts, nicht einmal Licht, entkommen kann. Ein verdammt passender Name, denn ich war von dieser Linie schon so angezogen, dass der einzige Weg raus nur noch nach vorne führte. 

Ich habe bis Juni weiter an Event Horizon geklettert, bis es Zeit war, die Crashpads gegen Gurt und Seil zu tauschen. Mein Fokus lag auf The Cobra Crack (5.14b) und Dreamcatcher (5.14d)—die einzigen Routen, die ich vor meinem Umzug nach Squamish kannte. Damit begann für mich eine echte Lernreise. Im Laufe der Monate habe ich mich voll darauf konzentriert, jede dieser Traumlinien in einer Saison zu klettern (The Singularity, Dreamcatcher, Cobra Crack). Ich habe Fehler gemacht und den Druck zu sehr an mich herangelassen. Nachdem ich Cobra Crack Ende August geschafft hatte, hatte ich das Gefühl, Dreamcatcher unbedingt abhaken zu müssen, um dieses willkürliche Ziel zu vollenden. Meine Versuche wurden immer stressiger und unsicherer, und nach ein paar weiteren Sessions habe ich es für dieses Jahr aufgegeben und mich stattdessen wieder auf die vertrauten Boulderblöcke eingelassen.

Diesen Winter zog es mich nach Bishop. Eigentlich wollte ich wie im letzten Jahr nur einen Monat im Subaru leben, aber aus einem wurden zwei – und am Ende waren es dreieinhalb. Ehe ich mich versah, war die ganze Wintersaison am Event Horizon vorbei. Und ehrlich: Ich hätte es nicht anders gewollt. Diese Monate mit Freund:innen, Fremden, endlosen Weiten, scharfem Fels, trockener Luft, kurzen Tagen und langen Nächten haben mir so viel über mich selbst beigebracht. Anfang April war ich zurück in Squamish, bereit, für ein paar ambitionierte Seilkletter-Projekte zu trainieren – aber The Room hat mich wie immer sofort wieder in seinen Bann gezogen. Nach Monaten an einem Vier-Zug-Crimp-Boulder in der Wüste hätte ich nie gedacht, dass ich fit für ein 16-Züge-Power-Endurance-Testpiece am Granit bin. Irgendwie lief es besser als je zuvor – und gleich am ersten Tag hatte ich meinen besten Versuch.

Mit jeder Session wurden die Bedingungen schlechter, und mein Fortschritt kam komplett zum Stillstand. Schon bald schlichen sich Zweifel ein, und ich beschloss, einen Schritt zurückzutreten und mich auf Dreamcatcher zu konzentrieren. Ein früher Saisonstart mit einer ordentlichen Portion Leichtigkeit hat es mir viel einfacher gemacht, die Zeit auf der Route wirklich zu genießen. Den Rest des Frühlings habe ich meine Tage aufgeteilt: Wenn’s kalt war, ging’s an den Boulder, und sobald es wärmer wurde, an die Route. Es war schon ein bisschen verrückt, gleichzeitig an meinem härtesten Seillängenprojekt und am Boulder zu arbeiten – aber diesen Frühling hab ich einfach mal alle Vernunft über Bord geworfen und bin meinem Herzen gefolgt. Genau das habe ich auf meinen Winterreisen dieses Jahr am besten gelernt.

Am 23. Mai stand ich endlich bei den letzten Zügen von Event Horizon und verfehlte das finale „Jug“ um eine Fingerbreite. Es war klar, dass es diese Saison möglich wäre, aber genau an diesem Tag war auch der letzte kalte Frühlingstag des Jahres. Wenn ich es noch in dieser Saison schaffen wollte, hätte ich bei „schlechten“ Bedingungen klettern müssen – und darauf hatte ich einfach keinen Bock. Also habe ich beschlossen, es nur noch dann zu versuchen, wenn es sich richtig anfühlt, um das Bewegungsmuster im Kopf und in den Muskeln zu behalten.

Dreamcatcher rückte immer näher – so nah, dass ich eigentlich wusste, es würde passieren, sobald die Bedingungen und meine Haut an einem Tag zusammenpassen. Am 10. Juni sah es aber nicht danach aus. Es war warm und kaum Wind. Trotzdem habe ich mich wie immer eingeknotet, um mich aufzuwärmen: Die Platte ausgelassen und die steile Route mit einem Hänger geklettert. Diesmal fühlte ich mich so frisch, dass ich nicht mal einen Hänger brauchte – ich bin einfach weitergeklettert, aus Neugier, und habe die Seillänge aus Versehen durchgezogen, ohne die Platte zu machen. Kam mir ein bisschen blöd vor, aber ich wusste, der Durchstieg ist nicht mehr weit. Beim nächsten Versuch war ich zu sehr darauf fixiert, es endlich zu schaffen. Ich bin schlecht geklettert, war gestresst und hab gezittert vor Angst zu stürzen, je weiter ich nach oben kam. Am Ende bin ich ein paar Züge vor dem Top gefallen. Ich war komplett fertig und hab beschlossen, erstmal 90 Minuten Pause zu machen, bevor ich entscheide, ob ich’s nochmal probiere. Ich saß auf dem Start-Absatz von Dreamcatcher und hab mich in The Room umgesehen, fasziniert von der Schönheit und Komplexität dieses Ortes: Glatte Wände, markante Linien, alles fällt ineinander und erschafft diesen Raum. Und ich hab darüber nachgedacht, wie unwahrscheinlich es ist, dass ich genau jetzt, genau hier bin. Dieses bewusste Wahrnehmen, wo ich gerade bin, wurde zu meinem festen Ritual vor dem Durchstieg – es hat mir geholfen, mich zu erden und jeden Moment zu genießen. Ein krasser Gegensatz zu meiner Einstellung bei den vorherigen Versuchen und der ganzen Saison.

Ich drückte auf Play bei Spotify, damit mein Kopf was anderes als den abendlichen Highway-Stau zu hören hatte. Ich sang zu „Row Jimmy“ mit, das aus meinem Handy tönte, während ich entspannt die Platte hochstartete, ganz im Flow, konzentriert auf den nächsten Move, und genoss einfach die Route. Ich glitt die Wand hoch, jede Passage lief wie am Schnürchen. Mein Klettertempo war locker, fast spielerisch, und am Rastpunkt kam ich oben an – frisch und voller Energie. Es hat richtig Spaß gemacht. Mehr Spaß, als ich je auf dieser Route hatte. Am Anfang der Crux blieb ich fokussiert, aber entspannt – und dann kam der Try-hard-Modus. Ich spürte, wie ich gleich wieder an der gleichen Stelle abgehen würde wie beim letzten Versuch, aber ich kämpfte mit allem, was ich hatte, blieb dran und warf meinen Körper zum finalen Henkel. Mit dem letzten Griff wurde ein Traum wahr und ein weiteres Abenteuer zur Erinnerung. Ich erreichte den Umlenker, band mich aus und rief: „Stand frei!“ Bis heute, wenn ich diese Worte sage, spüre ich wieder dieses riesige Grinsen, das sich in mein Gesicht schleicht, während ich alles aufsauge. 

In den Wochen, nachdem ich am letzten Zug von Event Horizon abgeflogen bin, lief es echt mies – oft bin ich schon sechs Züge vor meinem Highpoint rausgefallen. Letzte Woche war ich kurz davor, die Saison abzuhaken, aber der Freitag sah vielversprechend aus. Am 13. Juni, zwei Ruhetage nach meinem Durchstieg von Dreamcatcher, bin ich nochmal ins The Room zurück, um eine letzte Session zu starten. Es fühlte sich an wie jeder andere Tag, nichts deutete darauf hin, dass heute Schluss sein könnte. Nach vier Stunden und etlichen Versuchen stand mein letzter Go des Tages an. Während ich meine Hände am Ventilator abkühlte, hab ich mich entspannt und alle Gedanken ausgeblendet, die mich aus dem Moment reißen könnten. In diesem Augenblick wurde mein Kopf ganz ruhig – nur ich und der Fels, verbunden durch Jahre voller Einsatz.

Ich ziehe mich hoch und lasse los, mein Kopf wird ruhig, damit mein Körper sich frei bewegen kann. Meine Finger greifen wie von selbst jeden Kristall der Griffe, meine Hüften schwingen mühelos in die richtige Position – ein fließender Tanz, den nichts aufhalten kann. Eine Naturgewalt, geformt von den Bedingungen der letzten 100 Tage. Am letzten Griff angekommen, schaue ich nach unten und um mich herum, versuche zu begreifen, was gerade passiert ist, bevor ich aussteige. Ich liege lange auf dem Room-Boulder, blicke hinauf zu Dreamcatcher und hinunter zu Event Horizon – immer noch völlig baff, wie ich diese Woche überhaupt geschafft habe.

Es fühlt sich seltsam an, jetzt durch den Tunnel in The Room zu gehen und nicht mehr Linien zu sehen, die ich unbedingt klettern will, sondern Abschnitte aus Fels, die die Erinnerungen, Lektionen und Geheimnisse meiner frühen Erwachsenenjahre bewahren. Egal, was im Leben in all den Jahren los war – ich bin immer wieder zurück in The Room gekommen, um an meinen Projekten zu tüfteln. Es wurde zu so etwas wie meinem Kinderzimmer, in das ich flüchten konnte, wenn ich einen Rückzugsort brauchte – vor mir selbst oder vor der Welt. Hier habe ich meine Freunde mitgebracht, um gemeinsam zu klettern, zu lachen und einfach Spaß zu haben. An Ruhetagen war es der Ort, an dem ich zur Ruhe kommen konnte. Und doch – wie bei unseren echten Kinderzimmern – werden wir irgendwann erwachsen und ziehen weiter. Es ist wunderschön und schmerzhaft zugleich, sich von so einem besonderen Teil meines Lebens zu verabschieden. Aber diese prägenden Jahre und Erfahrungen an einem so einzigartigen Ort wie The Room erleben zu dürfen, ist etwas, das ich für immer im Herzen tragen werde.

Nach sieben Wochen fühlt es sich immer noch nicht richtig an, dort mit dem Klettern fertig zu sein. Mein Körper zieht es aus Gewohnheit immer wieder dorthin, aber es gibt nichts mehr zu tun und keinen Abschluss mehr zu finden. Es ist vorbei. Eines Tages wird noch mehr Fels von oben herabstürzen, The Room wird zu einem weiteren Geröllhaufen unter dem Wald, und auch ich werde irgendwann unter der Erde liegen. Es gibt Trost darin, die Vergänglichkeit dieser flüchtigen Momente zu akzeptieren. Das ist eine Lektion, die mir Saison für Saison in Squamish beigebracht wird – aber diese Felsen und ihre Linien sind so viel mehr als nur eine Zahl, ein Name oder ein Erfolg. Wenn du dich darauf einlässt, können sie zu großartigen Lehrern werden, die dein Leben prägen und bereichern – mehr, als du dir je vorstellen könntest.

Meiner Familie und meinen Freunden – danke, dass ihr mich bei allem unterstützt, was ich im Leben anpacke. An meine Sponsoren in all den Jahren – danke, dass ihr an mich geglaubt habt. An die, die vor mir da waren – danke, dass ihr den Weg geebnet habt. An alle, die mich über die Jahre begleitet und gecoacht haben – danke für eure Geduld und dafür, dass ihr mir gezeigt habt, was Klettern wirklich bedeuten kann. Und an die, die irgendwann in meine Fußstapfen treten: Denk dran, du bekommst nur eine Chance, deine Traumrouten zu klettern – also sorg dafür, dass du dabei verdammt viel Spaß hast.

Genieß den Weg, bevor er vorbei ist – das geht schneller, als du denkst.
— BD Ambassador Ethan Salvo